Hasse: "Fordern einen Stufenplan zur Verbesserung der Rahmenbedingungen"

Die nackten Zahlen sprechen eine klare Sprache: Mit in Summe 37 Medaillen verzeichnete Deutschland in Tokio das schwächste Abschneiden bei Olympischen Spielen seit der deutschen Wiedervereinigung. Doch ist die Einordnung der Resultate wirklich so klar und deutlich? Worin liegen die Gründe für diese Bilanz? Welche Maßnahmen gilt es zukünftig zu ergreifen? Sport-Deutschland diskutiert und analysiert, auch der Berufsverband der Trainerinnen und Trainer im Deutschen Sport e.V. (BVTDS) befasst sich mit diesen Fragestellungen. BVTDS-Pressesprecher Tobias Grosse sprach dazu mit den beiden BVTDS-Präsidenten Holger Hasse und Gert Zender – und bat um Antworten:

TG: Dirk Schimmelpfennig, im DOSB-Vorstand für Leistungssport verantwortlich, sprach in seiner ersten Analyse kurz nach Olympia unter anderem davon, dass für ein erfolgreicheres Abschneiden zukünftig Strukturen vereinfacht werden müssten und ein Fokus auf Nachwuchsarbeit sowie Trainerausbildung zu legen sei. Was denkt ihr darüber?

GZ: Zunächst eine kurze Anmerkung zur Bilanz. Sicher ist diese, wenn man alleine die Medaillenränge betrachtet, wenig erfolgreich. Wenn man aber auch die Top 8-Resulate und die persönlichen Leistungen vieler Athletinnen und Athleten betrachtet, erscheint mir das Abschneiden okay. Zur Analyse gehört insofern auch ein Vergleich zu den TOP 8- Resultate der vorherigen Olympischen Spielen.

HH: Das sehe ich auch so. Tatsächlich aber halte ich den Fokus auf den Nachwuchs für den richtigen, wenn auch seit vielen Jahren überfälligen Schritt. Allerdings werden strukturelle Änderungen im Bereich des Nachwuchsleistungssports keine kurz- oder mittelfristigen Erfolge bei den nächsten Olympischen Spielen bewirken. Ich rechne aktuell nicht mit einer signifikant besseren Gesamtbilanz 2024 in Paris.

TG: Um den Nachwuchs adäquat zu fördern, bedarf es optimaler Trainingsbedingungen. Sind diese gegeben?

HH: Das ist sicher von Sportart zu Sportart und in den einzelnen Disziplinen sehr unterschiedlich. Meiner Einschätzung nach klafft eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Seit Jahren, ja fast Jahrzehnten diskutieren wir über die zum großen Teil völlig unzureichenden Rahmenbedingungen für Trainerinnen und Trainer. Diese werden auf Kongressen immer wieder als Schlüsselfiguren bezeichnet. Die Realität ist aber meist eine andere. Insofern ist es nur logisch, dass Trainingsbedingungen für Athletinnen und Athleten nicht optimal sind. Ich denke, derzeit lebt das deutsche Sportsystem insbesondere von einzelnen Stützpunkten und Zellen, in denen hervorragende Arbeit geleistet wird.

GZ: Ein Beispiel ist der Stützpunkt Magdeburg im Schwimmsport. Hier hat u.a. Bernd Berkhahn auch schon vor seiner Tätigkeit als Chef-Trainer optimale Strukturen aufgebaut und arbeitet mit modernen Konzepten sehr eng mit seinen Athletinnen und Athleten zusammen. Der Erfolg, auch bei Olympia, gibt ihm Recht.

TG: Ihr habt die schwierigen Bedingungen für Trainerinnen und Trainer bereits angesprochen. Teilt ihr die Einschätzung von Dirk Schimmelpfennig, dass die Ausbildung von Trainerinnen und Trainern der Schlüssel zum Erfolg ist?

HH: Natürlich ist auch ein hochwertiges Aus- und Weiterbildungssystem ein Schlüssel für den sportlichen Erfolg. Daneben müssen aber auch die Rahmenbedingungen stimmen, damit der Trainerberuf überhaupt für hochqualifizierte Menschen im Leistungssport attraktiv ist. Nach wie vor sind faire Verträge, eine angemessene Bezahlung und gesunde Arbeitsplätze eine Ausnahme. Unter diesen Rahmenbedingungen sind insbesondere viele junge Trainertalente gar nicht mehr bereit, den Trainerberuf zu ergreifen.

TG: Zudem hört man von vielen Top-Trainern, die sich aus dem deutschen Leistungssport verabschieden, weil die Arbeitsbedingungen beispielsweise als Lehrer oder im Ausland einfach besser sind.

HH: So ist es. Aber hier fehlt es offensichtlich an einem Verständnis bei den Verantwortlichen im deutschen Sport, dass man die besten Leute auf dem Markt nur mit attraktiven Bedingungen gewinnen und halten kann. Dadurch ist auch der Faktor Diversität und Durchmischung der TrainerInnen-Teams ein Problem. Nur 8% der Bundestrainer in Tokio waren weiblich. Für Frauen wirken sich die schlechten Rahmenbedingungen meist noch schlechter aus. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist schwierig. Da bedarf es ganz einfach eines neuen Denkens sowie innovativer und kreativer Arbeitszeitmodelle, um die nötige Attraktivität zu schaffen.

TG: Professor Dr. Helmut Digel, eine Ikone der Sportwissenschaft, hat auf seiner Homepage „Sport nachgedacht“ eine Analyse des deutschen Abschneidens bei Olympia veröffentlicht und Reform-Vorschläge unterbreitet. Auch er beleuchtet die Situation von Trainerinnen und Trainern und prangert an, dass Probleme seit Jahrzehnten bekannt und keine Lösungen in Sicht seien. Einer seiner Vorschläge lautet, Arbeitsverträge von Trainerinnen und Trainern grundsätzlich zu befristen, um keine „Amtsmüdigkeit“ aufkommen zu lassen. Für den BVTDS, der eine Ende der Praxis der Kettenverträge fordert, ein Unding?

GZ: Nun ja, Helmut Digel verbindet diesen Gedanken ja mit einer adäquaten Besoldung, die entsprechende Risiken abmildert. In dieser Konstellation ist der Gedanke inhaltlich zwar nachvollziehbar, aber unrealistisch und rechtlich nur unter eng begrenzten Voraussetzungen legal umsetzbar. Im Fall einer legalen Befristung geht es nicht nur um eine angemessene Vergütung der Tätigkeit, sondern um eine Vergütung, die das Ausfallrisiko nach Beendigung einer Tätigkeit annähernd ausgleicht. Ich stimme Helmut Digel aber zu: TrainerInnen, ob Chef-Trainer*innen oder Nachwuchstrainer*innen, müssen auskömmlich und an ihrer Verantwortung gemessen, bezahlt werden. Die Realität ist in Deutschland aber oft, dass in Verbänden die übliche Praxis ist, befristete Verträge mit weniger angemessenen Vergütungen für Traineraufgaben abzuschließen. Die Arbeitgeber, ob nun Verbände, Vereine oder Olympiastützpunkte, müssen Verträge entfristen, die Trainerinnen angemessen vergüten und bei Auflösungen entsprechende Abfindungen zahlen. Natürlich müssen Trainerinnen und Trainer im Leistungssport an ihren Erfolgen gemessen werden und müssen Arbeitsverhältnisse auch beendet werden können, wenn die Zusammenarbeit keine Früchte trägt. Auch dies ist, wenn es an der Schlechtleistung des Trainers liegt, rechtlich möglich.

TG: Einen weiteren Abschnitt widmet auch Digel dem Thema „Aus- und Weiterbildung“ und prangert die fehlende Kooperation mit der Wissenschaft an…

HH: Ein nachvollziehbarer Ansatz. Digel fordert ja unter anderem auch, Trainerinnen und Trainer zu zweiwöchigen Weiterbildungsmaßnahmen und zum intensiveren Austausch mit anderen Sportarten und Wissenschaft zu verpflichten. Allerdings haben die meisten Kolleginnen und Kollegen aufgrund der Personalknappheit überhaupt keine Zeit, denn irgendjemand muss sich in dieser Zeit schließlich um die Trainingsgruppe kümmern.

TG: Es bleibt also bei einer ganzen Reihe von Missständen im deutschen Trainerwesen.

HH: Und es werden auch nicht alle Probleme auf einen Streich zu lösen sein. Ich sehe die Wünsche im deutschen Sport oder im deutschen Trainerwesen: Alle bisherigen Förderungen von Sportarten und Disziplinen sollen beibehalten werden, es soll mehr Leistungssportpersonal beschäftigt und dieses besser finanziert werden. Von mehr finanzieller Unterstützung für Athletinnen und Athleten ganz zu schweigen. Natürlich geht nicht alles und schon gar nicht auf einmal. Wir brauchen zwar Breite, können aber nicht alles fördern. Daher fordere ich die Entwicklung eines Stufenplans, bei dem die Rahmenbedingungen für Leistungssport, auch für die Trainerinnen und Trainer sukzessive entwickelt und verbessert werden.

GZ: Für die Etablierung dieses besseren Rahmens sehe ich im Übrigen Bund, Länder und Spitzenverbände in der Pflicht. Wir brauchen höhere Hürden und klarere Vorgaben seitens des Bundes, die dann in DOSB und Verbänden umgesetzt werden müssen. Das muss ein erster zukünftiger Schritt sein.

Holger Hasse (links) und Gert Zender (Foto: privat)